Lesesaal

Der nervöse Staat (Mohr Siebeck)
Was ist ein nervöser Staat? Vor dem Hintergrund der sicherheitsrechtlichen Herausforderungen des 21.Jahrhunderts entwirft Tristan Barczak ein facettenreiches, als kritische Analyse konzipiertes Staatsbild. Skizziert wird ein Staat, der aus ständiger Angst, den letzten Zeitpunkt rechtzeitigen Handelns zu verpassen, schon in der Normallage so handelt, als befinde er sich im Ausnahmezustand. Unter den Bedingungen einer von Globalisierung, Digitalisierung und Dynamisierung geprägten Risiko- und Sicherheitsgesellschaft tritt an die Stelle des verfassungsrechtlichen Ausnahmeregimes ein permanent abrufbares Präventionsrecht, das der Verhinderung der Krise weit im Voraus konkretisierter Gefahren dient. Vorverlagerung, Verstetigung und Vergesetzlichung wirken auf Form und Struktur des Ausnahmezustands zurück. Sie erfordern neue rechtliche Bindungen, die ebenso stabil wie elastisch, ebenso rigide wie flexibel sein müssen. Nur so erweist sich das Recht resilient gegenüber einem antizipierten Ausnahmezustand und ebnet dem Staat den Weg aus der Antizipationsfalle.
Juristische Bücher des Jahres 2021 - Eine Leseempfehlung (JZ 2021, 994)

Das Recht der Nachrichtendienste: Missstände, Entwicklungen und Perspektiven eines Rechtsgebiets in der Findungsphase, in: KritV 104 (2021), S. 91
Das Recht der Nachrichtendienste befindet sich im Umbruch. Auf der einen Seite hat es in der jüngeren Vergangenheit eine Verrechtlichung, Vergesetzlichung und verfassungsrechtliche Verankerung in durchaus beachtlichem Umfang erfahren. Auf der anderen Seite stehen die seit langem überfällige Gesamtreform und Bereinigung dieser Rechtsmaterie noch immer aus. Die als Reaktion auf die jüngere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verabschiedete BNDG-Reform hat zwar die gravierendsten verfassungsrechtlichen Missstände behoben. Sie vermochte jedoch die strukturellen, systematischen wie methodischen Defizite im Nachrichtendienstrecht nicht zu beseitigen. Der Beitrag zeigt, dass man einem legistischen Trümmerhaufen nicht mit Flickwerk beikommen kann.

Generalisierung vorsorgender Sicherheitspolitik, in: ZRP 2021, S. 122
Gesetzesänderungen im Bereich des Sicherheitsrechts sind oftmals anlass- oder ereignisbedingt und werden nicht selten mit Ausnahme- und Einzelfällen begründet. Der Ruf nach Verallgemeinerung, Verstetigung und Veralltäglichung des Außergewöhnlichen folgt beinahe ebenso häufig auf dem Fuß. Es ist ein Gebot rechtspolitischer Klugheit wie guter Gesetzgebung, diesem Ruf nicht vorschnell zu folgen.

Permanente Prävention und antizipierter Ausnahmezustand – der nervöse Staat, in: Möllers/ van Ooyen (Hrsg.), Jahrbuch Öffentliche Sicherheit 2020/2021, S. 56

Rechtsgrundsätze, in: JuS 2021, S. 1
Rechtsgrundsätze begegnen dem Rechtsanwender auf allen Ebenen der Rechtsordnung und in sämtlichen Rechtsbereichen. Sie geben sich oftmals nicht eindeutig zu erkennen, sind aber für eine teilkodifizierte, bis in die feinsten Verästelungen ausdifferenzierte und in ein Mehrebenensystem intergrierte Rechtsordnung von besonderer Bedeutung. Da sie die verschiedenen Ebenen verklammern und Brücken zwischen den unterschiedlichen Bereichen herstellen, stützen sie das Gesamtgerüst. Mit ihnen lassen sich die Zusammenhänge des inneren Systems wie auch die Verknüpfungen der einzelnen Rechtsgebiete besser erfassen. Auf diese Weise bieten sie gerade für angehende Juristinnen und Juristen eine Orientierungshilfe im "Paragrafendschungel".

Algorithmus als Arkanum - Zu Staatsgeheimnissen im Digitalzeitalter und normativen Fundamenten einer Digitalordnung, in: DÖV 22/2020, S. 997
Im Zuge von Digitalisierung, Informationalisierung und Algorithmisierung der Gesellschaft entstehen neue Arkanbereiche, die die Machtverhältnisse zwischen Staat und Gesellschaft verschieben: Während die überkommenen Staatsgeheimnisse unter den grundrechtlichen wie demokratischen und rechtsstaatlichen Forderungen nach Öffentlichkeit, Informationsfreiheit und Transparenz auf eine Stufe mit Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen gestellt werden, besitzen die Geheimnisse um die algorithmische Gouvernementalität der Digitalwirtschaft das Potenzial, zu Staatsgeheimnissen im Informationszeitalter zu avancieren. Sie begründen ein digitales Arkanum, das den staatlichen Souveränitätsanspruch herausfordert. Mit einer Digitalordnung, die sich der Regulierung der Digitalwirtschaft annimmt, kann der Staat indes sein Selbstbehauptungsinteresse in die Zeit hinein sichern.

Die Staatsanwaltschaft als "Justizbehörde" - Ein Grenzgang zwischen Zweiter und Dritter Gewalt, in: JZ 23/2020, S. 1125
Der deutschen Anklagebehörde fehlt aus europarechtlicher Perspektive die notwendige Unabhängigkeit. Der Beitrag spürt der Staatsanwaltschaft, die weder klassische Verwaltungsbehörde noch Rechtsprechungsorgan ist, rechtshistorisch, -begrifflich und verfassungstheoretisch nach. Mit der Zuordnung der Staatsanwaltschaft zur Dritten Gewalt wird ein verfassungs- und unionsrechtskonformer Ausweg aus der endlosen Suche nach ihrer gewaltenteiligen Verortung sowie ein mögliches Ende der externen Weisungsbefugnis aufgezeigt.

Die "Stunde der Exekutive" - Rechtliche Kritik einer politischen Vokabel, in: RuP 4/2020, S. 458
Nicht nur hierzulande und nicht erst seit dem Beginn der COVID-19-Pandemie gelten Krisen als „Stunde der Exekutive“. Tatsächlich handelt es sich hierbei um einen verfassungsrechtlichen und rechtstatsächlichen Mythos, der die Verantwortung ebenso wie die Fähigkeit der gesetzgebenden Organe zur Notstandsvorsorge mit zu kleiner Münze handelt. Damit birgt er die Gefahr, als Rechtfertigungstopos für exekutive Sondervollmachten zu dienen und die Entparlamentarisierung der Krisenbewältigung zu effektuieren.

Vom Kreuzberg zum Breitscheidplatz - Gefährder- statt Gefahrenabwehr in den neuen Polizeigesetzen, in: KrimJ 2/2020, S. 97
Seit dem Kreuzberg-Urteil des Preußischen Oberverwaltungsgerichts aus dem Jahr 1882 markierten „Gefahr“ und „Störer“ die zentralen Komponenten eines auf die Gefahrenabwehr beschränkten Polizey-Begriffs. Um der Freiheitlichkeit willen meinte der liberale Rechtsstaat, das schädigende Ereignis bis kurz vor dessen Eintritt abwarten zu können – auch um den Preis, den letzten Zeitpunkt für ein rechtzeitiges Eingreifen womöglich zu verpassen. Ein solches Risiko nimmt der moderne Präventions- und Vorsorgestaat nicht mehr in Kauf: Er will gefahrenträchtige Geschehensabläufe nicht erst im letzten Moment unterbrechen, sondern sie gar nicht in Gang kommen lassen. Hier wird das mutmaßlich gefährliche Subjekt anstelle des objektiven Kausalgeschehens, der Gefährder bzw. die Gefährderin anstelle der Gefahr, in den Fokus genommen. Die Person selbst wird zum Bezugspunkt sicherheitsrechtlicher Risikovorsorge gemacht, wobei die Prognose nicht an das kaum kalkulierbare menschliche Individuum anknüpft, sondern dieses als Teil einer Gruppe oder standardisierbarer Situationen behandelt. Subjektivierung und Entindividualisierung gehen Hand in Hand und prägen das moderne Sicherheitsrecht.